Und auch in Zeiten von KI gilt: sapere aude
„(,,,) Solche Befürchtungen, das Subjekt könne sich in selbst erzeugten Scheinwelten verlieren, sind nicht unbedingt neu. Neu sind jedoch die Rasanz und Perfektion, mit der in den KI-Maschinen große Teile des Weltwissens zusammenschießen, vermengt und aufbereitet werden. Neu ist ebenso die Selbstverständlichkeit, mit der KI die Fiktionalisierung der Welt vorantreibt, um sie zugleich als unhinterfragbare Objektivität darzubieten. Anders als bei Wikipedia, wo möglichst alle Fakten belegt sein wollen, kommen die Textgeneratoren ohne Quellen aus. Sie wissen alles, auch das, was sie nicht wissen. Sie treten auf wie die Wahrheit selbst. Und erstaunlich viele Menschen sind bereit, dieser Wahrheit zu glauben, wie zahlreiche Studien zeigen. Der Name des Phänomens: Overtrust.
Auch das also motiviert die Warnrufe der KI-Forscher: Sie beobachten, wie leicht dem Menschen der Sinn fürs Wirkliche abhandenkommt. Und damit auch der Sinn für mögliche Risiken, die eine hochgezüchtete Technik mit sich bringt. Während die Maschine sich als Wahrheitshüter geriert, sogar als Subjekt der Geschichte, erfreut sich der moderne Mensch an den schönen Seiten der Unmündigkeit, lässt die Computer für sich schreiben, malen, denken – und den eigenen Geist verkümmern. So verrät er seine Freiheit, ohne es wirklich zu merken. Von Auslöschung zu sprechen ist ganz gewiss übertrieben. Nennen wir es Selbstentmächtigung.“
Hanno Rauterberg in DIE ZEIT N° 26